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Jens Schröder „Ich bin 220 Reporter

Jens Schröder, geschäftsführender Redakteur bei Geo, über die Sitzung der Jury des Reporterpreises 2009.

Ein getäfelter Saal mitten in Berlin. Zwei Frauen und sieben Männer sitzen um einen Konferenztisch. Vor ihnen stehen Getränke. Ein Döschen Minzpastillen soll verhindern, dass einer von ihnen sich beim Echauffieren heiser brüllt. Es steht viel auf dem Spiel an diesem trüben Dezembertag. Auf dem Tisch liegen Messermorde, Doppelmorde, Kindsmorde, Lustmorde und Massenmorde. Schwersterkrankte und Leichtsinnige. Eine unschuldige Teenager-Liebe. Und 25000 Euro.

Die Luft im Raum steht. Und in ihr steht das Wort: „Verrat!“

In der Jurysitzung, von der dieser Reportage-Einstieg handelt, wäre er selbst wahrscheinlich hart bemängelt worden. „Verspricht viel mehr Dramatik, als der Text nachher einlösen kann“, hätte vielleicht Claus Kleber gesagt. „Drückt viel zu sehr auf die Tube“, wäre wohl der Kommentar von Erwin Koch gewesen. Christoph Scheuring hätte es möglicherweise als Verrat empfunden, dass sein hinter verschlossenen Türen geäußerter Verratsvorwurf gegen einen Kollegen öffentlich gemacht wird. Und: „Was ist das denn für ein Thema?“ hätte ganz sicher Manfred Bissinger gefragt. „Eine Reportage über eine Jurysitzung! Das ist ja beinahe so abgedroschen wie ‚Weihnachten im Stellwerk’“.

Ich selbst hätte den Einstieg auch nicht verteidigt. Nicht verteidigen dürfen. Denn als neuntes Mitglied der Print-Jury des Deutschen Reporterpreises 2009 war ich ausschließlich mit einem imperativen Mandat ausgestattet. Das Los hatte bestimmt, dass ich das Mehrheitsvotum der 220 Teilnehmer des diesjährigen Reporterforums im Entscheidungsgremium vertreten sollte. Und so war es meine Aufgabe, dem Text des Spiegel-Reporters Dirk Kurbjuweit über den CDU-Politiker Philipp Mißfelder zum Titel „Beste Reportage des Jahres“ zu verhelfen.

Es ist kein Geheimnis, dass mir das leider nicht gelungen ist.

Dabei hatte ich eigentlich erwartet, mit meinem Votum offene Türen einzurennen. Kurbjuweits Text war nach seinem Erscheinen im Spiegel bei uns in der Redaktion herumgereicht worden: „Hast du schon gelesen? Wahnsinn. Wie der den Mißfelder enttarnt hat!“ Kein schlechtes Zeichen.

Und müssten es nicht auch die anderen Juroren wunderbar finden, einen der wenigen Texte zu prämieren, in denen ausnahmsweise niemand stirbt, nicht mal beinahe? In dem kein Regenwald zerstört wird, sondern nur die Maske eines Polit-Karrieristen? Müsste nicht außerdem meine Stimme als „Vox Populi“ des Reporter-Forums den Bonus der Schwarmintelligenz bekommen?

Und schließlich ist doch auch Claus Kleber mit dabei! Ein Mann, der sich jeden Abend im Heute Journal mit dem System Merkel auseinandersetzen muss – wie könnte so einer den Kurbjuweit-Text nicht ganz besonders erfrischend gefunden haben, beschreibt er doch auf bislang nie gekannte Weise die Grundlagen des Berliner Nachrichtengeschäfts? Klebers Stimme hat bestimmt Gewicht in einer Jury. Auf ihn können ich und die anderen sicher 219 zählen.

Ich lehne mich zurück und lutsche drei Minzpastillen.

Erste Runde. Jeder Juror darf verkünden, welche Texte aus seiner oder ihrer Sicht in die engere Wahl gehören. Die pragmatische Regel: Die Reportagen, die von mindestens zwei Juroren genannt werden, sollen fortan weiter diskutiert werden. Bissinger fängt an, trägt mit der Routine des Dauerjurors und der Erfahrung eines Journalistenlebens vor. Kurbjuweit hat er nicht auf der Liste. Erwin Koch sagt, dass von den besten Texten ein Zauber ausgehen solle – nennt folgerichtig den zauberhaften Text über die Teenager-Beziehung von Paul und Paula aus der „Zeit“ als einen seiner Kandidaten. Auch da stirbt keiner. Nicht mal die Liebe, ganz im Gegenteil.

Dann darf ich: Mit der Wucht von 220 Reportern benenne ich das Mißfelder-Porträt, hat der Autor es doch geschafft aus einem völlig undramatischem Stoff, nämlich aus etlichen Treffen und Restaurantbesuchen mit dem Vorsitzenden der Jungen Union, eine Geschichte zu machen, von der man nach der Lektüre seinen Kollegen erzählen will. Große Kunst. Finde ich.

Christoph Scheuring findet das nicht. Er beugt sich nach vorn, blättert in Unterlagen. Das Mißfelder-Porträt wolle auch er nennen, sagt er. Aber als einen Text, der den Preis um keinen Preis bekommen dürfe. Es komme ihm bei der Lektüre dieser Geschichte nämlich ein Wort in den Sinn: Verrat. Man müsse doch zumindest versuchen, für seine Porträtierten ein wenig Sympathie aufzubringen. Sich so eng ans Subjekt begeben, mit ihm Wein trinken, und dann bloßstellen – das missfällt Scheuring. Weil es sicher auch Mißfelder missfällt.

Eine Handvoll Minzpastillen verschwinden in meinem Mund. Claus Kleber muss es jetzt richten. Tut er nicht. Er argumentiert, er trägt die Namen vor, die er sich vorher notiert hat. Kein Kurbjuweit. Kneift Kleber? Oder sollten ihn die starken Worte seines Vorredners nachdenklich gestimmt haben?

Auch in den weiteren Voten kommt der Favorit der Basis nicht vor. Verlegerin Antje Kunstmann, Reporter Alexander Osang, Regisseurin Doris Dörrie – alle schwärmen in wohl gewählten Worten von ihren Lieblingstexten. Anderen Texten. Nur Axel Hacke sagt, er freue sich auf die Kurbjuweit-Debatte. Die ja aber allein mit meiner Multi-Stimme gar nicht mehr stattfinden kann. Oder doch?
Beschluss: Auch eine negative Stimme ist eine Stimme. Sie signalisiert Konfliktpotenzial. Was für den Text spricht. Kurbjuweit bekommt also zwei Punkte und eine Diskussion.

Mal ehrlich, muss man einen wie Mißfelder vor seinen eigenen Worten und Taten schützen? Eher nicht, finden viele. Aber es bleibt ein fader Geschmack. So richtig kämpfen mag keiner mehr für einen Text, der so heftig angeschossen wurde. Ich sehe meine Mission in Gefahr, zähle noch mal die Verdienste auf. Einer, der vielleicht der übernächste Kanzlerkandidat der CDU wird – so einen muss man doch nicht schonen! Den muss man so darstellen, wie er ist. Zur Sympathie kann man sich nicht zwingen – und außerdem, wer weiß, vielleicht fand Mißfelder die Reportage gar nicht so schlimm. Weil sie ihn immerhin ins Gespräch gebracht hat.

Aber Kurbjuweit ist längst waidwund. Einen vermeintlichen Verräter rehabilitieren, das kann man machen - aber man muss ihm ja nicht gleich einen Preis geben. Jetzt ist das Einfallstor für die Detailkritik weit offen.

Drückt zu sehr auf die Tube (Koch), hat zu wenig Facetten (Dörrie), ist vielleicht nicht der allerbeste Text von Dirk (Osang). Jetzt wundert sich Claus Kleber doch noch, dass die Groß- und Hauptstadtjournalisten von ihren Kollegen so einen überaus vorsichtigen Umgang mit Politikern verlangen. Bei ihm in Mainz sei man da offenbar etwas handfester. Und: Ja, er sei durchaus ein Freund dieses Textes, der auch in seiner Redaktion damals Gesprächsthema gewesen sei.

Zu spät.

Zwei gegen sieben. Man könnte das Feld vielleicht von hinten aufrollen. Der Film „Die zwölf Geschworenen“ kommt mir in den Sinn. Ein Blick in die Runde zeigt mir, dass der Film heute auch mit Überlänge nicht zum Happy End führen würde. Wenigstens wird Kurbjuweit nicht hingerichtet. Er wird halt nur nicht preisgekrönt. Schade finde ich es trotzdem.

Im Rennen sind fortan vor allem Carolin Emcke, Sabine Rückert und Bastian Obermayer mit einer Geschichte über den Patienten einer Herztransplantation. Bei letzterem Text muss ich mich aus der Debatte ausklinken – tolle Reportage, zugegeben, aber dummerweise weiß ich von einer anderen Transplantationsgeschichte, die ich noch besser fand, die aber in den Wirren der Vorjurys stecken geblieben ist. Noch dummererweise war es eine GEO-Reportage. Darf man so etwas Unsachliches, so etwas Nachkartendes, überhaupt sagen? Ist das vielleicht auch wieder Verrat? An der Vorjury, an Obermayer, am geordneten Procedere, an allem zugleich? Oder ist es einfach Beispiel für einen Umstand, der Erwähnung finden sollte: dass mehrere ganz hervorragende Texte zum Leidwesen der einreichenden Redaktionen gar nicht bis zur Hauptjury vorgedrungen sind. Wahrscheinlich ist das ebenso banal wie unvermeidlich. Aber es zeigt auch die Unlösbarkeit der Aufgabe, die „Beste Reportage des Jahres“ bestimmen zu wollen, und dabei hundertprozentig gerecht zu verfahren.

Minzpastillen.

Am Ende macht Sabine Rückert das Rennen. Dafür, dass die Aufgabe unlösbar ist, ist die Entscheidung wunderbar. Das finden alle Beteiligten.

Ich war 220 Reporter. Vier Stunden lang und gern, wenn auch letztlich ohne Erfolg. Jetzt bin ich bis nach dem Abendessen immerhin noch ein Geheimnisträger. Die Reportage des Jahres wird nach dem Hauptgang gekürt.


Bis dahin essen neun Wissende mit 140 Ahnungslosen Fisch und Ente. Fast scheint es wie ein Wunder, dass alle Juroren stundenlang der Versuchung widerstehen etwas auszuplaudern. Andererseits: Wer wollte nach so einem Nachmittag noch Verrat begehen?

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Jens Schröder


Jens Schröder, geboren 1973, Studium Politologie in Bonn, Henri-Nannen-Schule, ist seit 2001 bei GEO.
Dokumente
Ich bin 220 Reporter (pdf)

erschienen in:
Reporter-Forum,
am 10.12.2009

 

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